In diesem Artikel geht es um ›sexuelle Intelligenz‹, einen – für mich – neuen Begriff, den ich in meiner letzten Lektüre entdeckt habe. Es handelt sich um das Buch von Marty Ralf Klein, einem engagierten US-Sexologen, mit dem Titel „Sexual Intelligence: What We Really Want from Sex and How to Get It“. Das Buch ist auf Englisch und meines Wissens nicht ins Deutsche übersetzt. Darum fasse ich in diesem Artikel einige Aspekte zusammen, die mir besonders interessant vorkamen. Einiges deckt sich tatsächlich mit meiner inzwischen zwanzigjährigen Erfahrung aus der Praxis und wird vom Autor auf eine interessante Art und Weise dargestellt. Das Interessante dabei ist die Definition von ›sexueller Intelligenz‹ und was Klein damit versteht. Eigene Gedanken fließen immer in den Artikel mit rein.

Ich wünsche viel Freude und Erkenntnis beim Lesen!

"Die vielschichtige Bedeutung von Sex

Sex ist nicht nur eine ›Aktivität‹ – es ist eine Idee, eine symbolträchtige Vorstellung. Unsere Vorstellungen von Sex sind allerdings oft so kompliziert, dass wir die Aktivität selbst kompliziert machen.

Nach der Verliebtheitszeit erleben viele Paare ein Nachlassen der Intensität, des gegenseitigen Begehrens. Wir hören auf, unsere*n Partner*in zu idealisieren, und sehen unser Gegenüber ohne rosa-rote Brille an. Sobald wir diese Phase durchlaufen, erleben wir, dass Liebe nicht mehr zuverlässig Verlangen auslöst, weil die ›Ent-Täuschung‹ über die nicht erfüllten Erwartungen und Verheißungen sowie der Alltag dazwischenkommen. In dieser Phase scheint der Aufwand, Sex zu initiieren, die wahrgenommenen Vorteile zu überwiegen.

Sex im Laufe der Zeit

Wenn wir möchten, dass Sex auch nach anfänglicher Begeisterung Teil unseres (Beziehungs-)Lebens bleibt, können wir uns nicht auf hormonell bedingte Lust verlassen. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass wir von Liebe und Leidenschaft überwältigt werden, und wir können uns nicht darauf verlassen, dass es nichts Besseres zu tun gibt.

Die Zeit vergeht, wir festigen unsere Beziehung, wir finden uns als Paar. Aber was ist mit dem tatsächlichen Sex, den wir haben werden, wenn wir dazu kommen?

Wenn wir an der Vorstellung von Sex festhalten, die wir als Jugendliche und/oder frisch Verliebte erlebt haben, und inzwischen aber einen reifen Körper mit all seinen Schwächen haben und unsere Beziehung auch nicht mehr die Frische der anfänglichen Verliebtheit aufweist, werden wir Probleme bekommen.

Was ist, wenn es nicht funktioniert?

Wir sollten einige unserer Vorstellungen über die Bedeutung von Verlangen und Erregung, von sexueller ›Funktion‹ und ›Dysfunktion‹ ändern. Wir sollten unsere Einstellung zum Sex ändern.

Wir Menschen wollen, dass Sex ›natürlich‹ und ›spontan‹ ist, dass er ›einfach passiert‹. Viele lehnen es ab, sich um Erwachsenensex zu bemühen, und ziehen sich stattdessen in jugendlichen Sex zurück – Affären, Liebesromane, Internet-Chats, ständiger Pornokonsum, geringes Verlangen.

Sexuelle Intelligenz

»Sexuelle Intelligenz ist die Fähigkeit, Sex unabhängig davon, was währenddessen passiert, im Blick zu behalten«, schreibt Klein.

Sexuelle Intelligenz, beschreibt der Autor weiter, «drückt sich in der Fähigkeit aus, auch in einer Situation, die nicht perfekt oder angenehm ist, Lust zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Es ist die Fähigkeit, sich an die Veränderungen des eigenen Körpers anzupassen; sie bedeutet Neugier und Aufgeschlossenheit gegenüber der Bedeutung von Lust, Nähe und Befriedigung und die Fähigkeit, sich anzupassen, wenn die Dinge nicht wie erwartet laufen – wenn das Gleitmittel ausgeht, einer von beiden während des Sex auf die Toilette muss, die Erektion nachlässt oder einer den anderen beim falschen Namen nennt.«

Sexuelle Intelligenz ist die Fähigkeit, die uns ermöglicht, uns vom jugendlichen Sex zum Erwachsenensex weiterzuentwickeln. Es ist das, was uns vom hormonell gesteuerten Sex zum Sex unserer Wahl bringt.

Sexuelle Intelligenz ist laut Klein «das, was uns von ›Sex muss mich bestätigen‹ zu ›ich bestätige meine Sexualität‹ bringt«.

Die drei Komponenten der sexuellen Intelligenz

Was sich die meisten Frauen und Männer vom Sex wünschen, ist weit mehr als nur körperliche Lust. Gleichwertig ist der Wunsch nach Intimität, Nähe, Verbindung sowie Bestätigung der Beziehung.

Zusammen sind es diese drei Aspekte der sexuellen Intelligenz, die unsere Erotik zum Fließen bringen. Sie unterstützen das Funktionieren, ohne das Funktionieren in den Mittelpunkt unseres sexuellen Denkens oder Erlebens zu stellen, so Klein:

  • Informationen und Wissen
  • Emotionale Fähigkeiten
  • Körperbewusstsein und Wohlbefinden

Informationen und Wissen

Es ist naheliegend, dass das Wissen um die Funktionen des Körpers in der Sexualität von Mann und Frau sowie das Wissen um grundlegende psychologische Dynamiken in der Beziehung das gute Gelingen einer intimen Begegnung wesentlich beeinflussen.

Von daher ist es ratsam, sich fundierte Informationen darüber zu holen.

Emotionale Fähigkeiten

Unter emotionalen Fähigkeiten wird in diesem Kontext vor allem die Regulierung von negativen Emotionen wie Scham, Leistungsdruck, Unsicherheit und Minderwertigkeitsgefühlen verstanden. Ohne diese Fähigkeit wird es nicht möglich sein, das Wissen über Sexualität umzusetzen und unser Sexleben an die unvermeidbaren Veränderungen im Laufe des Lebens anzupassen.

Körperbewusstsein und Wohlbefinden

Den Körper zu bewohnen oder, anders gesagt, die Anwesenheit im Körper erhöhen, ist ein zentraler Bestandteil erfüllender Sexualität. Nichts im Sinne von kritischer und prüfender Beobachtung, ob alles richtig ›funktioniert‹. Das wäre fatal und würde genau das Gegenteil hervorbringen. Diese Art von Präsenz im Körper lässt sich entwickeln.  Eine achtsamkeitsbasierte Praxis – so wie bei einer körperorientierten Sexualberatung nach Sexocorporel – unterstützt diese Form körperlicher Wahrnehmung.

Den Körper zu bewohnen bedeutet zum Beispiel:

  • dass wir die Bewegungen unseres Körpers (dank der sog. Propriozeption) wahrnehmen und kontrollieren können und dass
  • wir spüren, wie unser Körper mit seiner Umgebung in Beziehung steht – einschließlich anderer Körper (kinästhetisches Bewusstsein).

Sexuelle Intelligenz – erklärt Klein weiter – erfordert beide Fähigkeiten, damit wir unseren Körper ohne viel Nachdenken oder Anstrengung mit dem Körper des*der Partner*in in Beziehung setzen können. Propriozeption ist ein sechster Sinn, unser ›Positionssinn‹.

Kinästhetisches Bewusstsein ist das fortwährende, sich ständig verändernde Gefühl dafür, wo sich unser Körper in Zeit und Raum befindet. Es ist das dreidimensionale Radar des Körpers – auch ohne ständige bewusste Wahrnehmung.

Wie hängt das mit Sex zusammen? Hier ein Beispiel vom Autor: »Die Propriozeption gibt uns das Gefühl dafür, wie wir unsere Arme bewegen müssen, um jemanden zu umarmen. Das kinästhetische Bewusstsein lässt uns wissen, wie weit wir uns strecken müssen und wie stark unsere Umarmung sein muss, damit der*die Empfänger*in die Umarmung bekommt, die wir beabsichtigen. Dann gibt es natürlich noch die soziale Fähigkeit, zu beurteilen, ob diese Person eine Umarmung von uns möchte oder nicht.«

Ein unbewohnter Körper

Ein unbewohnter Körper ist fremdes Land. Was wir nicht kennen, lässt uns meistens unsicher fühlen. Gerade dann, wenn es darum geht, etwas mit jemandem zu tun, der uns viel bedeutet. Ein unbewohnter Körper führt zu erheblichen Störungen in unserem Intimleben.

Bei propriozeptiven Schwierigkeiten können oft Menschen Folgendes nicht gut:

  • Instinktiv wissen, was verschiedene Körperteile tun müssen, um sich auf eine bestimmte Weise zu bewegen
  • Instinktiv wissen, wie viel Druck erforderlich ist, um beispielsweise einen Arm zu streicheln oder eine Brust zu drücken

Ähnlich verhält es sich, wenn Menschen Schwierigkeiten mit der kinästhetischen Wahrnehmung haben:

  • Sie haben Probleme, genau einzuschätzen, wie sich ihre Körperbewegungen für andere anfühlen.
  • Genau einzuschätzen, wie nah sie einer anderen Person sind und wie schnell sie sich tatsächlich bewegen.

Fazit

Sexuell intelligent zu sein, bedeutet also nichts anderes, als den Sex als etwas zu betrachten und zu erleben, das sich mit der Zeit und mit uns verändert. Ähnlich wie wir unser Lauftempo beim Joggen oder andere ähnliche Tätigkeiten unserem körperlichen – und seelischen – Zustand anpassen. Wenn wir uns auf EPO (=Erektion, Penetration, Orgasmus) und/oder auf Orgasm-Muss als einzigen richtigen Sex fixieren und alles andere als Misserfolg betrachten, werden wir möglicherweise seltener Sex erleben und uns dermaßen unter Druck setzen, dass wir die Freude und den Spaß wahrscheinlich dabei verpassen.

Sexuell intelligent zu sein bedeutet, dass wir akzeptieren, dass sich die Lust im Laufe einer Beziehung verändert, und dass wir unsere Vorstellungen diesbezüglich kritisch hinterfragen sollten. Es geht allerdings nicht um ein passives und resigniertes Akzeptieren. Es ist vielmehr ein lebendiger Prozess, der den Wendungen unseres Lebens folgt und uns in der Veränderung lebendig sein lässt.

Wenn Du mehr über dieses Thema erfahren möchtest, empfehle ich Dir die Lektüre von Kleins Buch „Sexual Intelligence“.

Last but not least: In meinen verschiedenen Angeboten (einzeln, als Paar oder in der Gruppe) spielt die Entwicklung ›sexueller Intelligenz‹ immer eine Hauptrolle!

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