Die Essenz des Glücks im Leben ist das sexuelle Glück  (Wilhelm Reich)

Heute möchte ich ein Thema ansprechen, das vielleicht auf den ersten Blick ungewöhnlich klingt, aber eine faszinierende Bedeutung hat: die Heilkraft des Orgasmus als Weg zur Heilung und Selbsterkenntnis oder, wie der Titel des entsprechenden Buchs, das ich hier wiederholt zitieren werde, lautet: der therapeutische Orgasmus vom französischen Sexologen Alain Heril. Was steckt dahinter, und warum sollten wir mehr darüber wissen? Das erfährst du hier!

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Was bedeutet das Wort Orgasmus?

Das Wort Orgasmus stammt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie vor Lust sprudeln. Die Heilkraft des Orgasmus entfaltet sich, indem wir den Orgasmus bewusst zur Förderung von körperlichem und emotionalem Wohlbefinden einsetzen. Dabei geht es nicht nur um reines sexuelles Vergnügen. Es geht dabei, um die gezielte Erfahrung der Heilkraft des Orgasmus, der uns den Weg zur Heilung zeigt. Heilung, die entsteht, indem wir versteckten Facetten unserer Persönlichkeit Raum geben und uns selbst erkennen. Es ist die Erfahrung, dass der Höhepunkt Blockaden lösen, Stress abbauen oder das eigene Körperbewusstsein stärken kann.

Wie funktioniert das?

Wir können die Heilkraft des Orgasmus auf verschiedene Weisen erleben: durch Selbstbefriedigung, Sex mit dem Lieblingsmenschen, geführte Meditationen und Atemübungen, die den Orgasmus als Heilmittel einsetzen. Wichtig sind dabei die Achtsamkeit und das Gefühl, in einem sicheren Raum zu sein, um sich voll auf die Erfahrung einzulassen.

Warum ist der Orgasmus so kraftvoll?

Der Orgasmus löst verschiedene Reaktionen im Körper aus und ist das, was man einen Hormonschub nennen könnte. In der Tat sind wir verschiedenen Arten von Hormonen – auch Lusthormone genannt –  ausgesetzt, um ihn zu erreichen.

Hier findest Du im Detail, was die verschiedenen Hormone bewirken. Wenn Du nicht so tief in dieses Feld einsteigen möchtest, kannst Du diesen Absatz überspringen und gleich beim nächsten weiterlesen.

Welche Hormone spielen eine Rolle und was bewirken sie?

  • Phenylethylamin – ist eines dieser Hormone. Es erzeugt Euphorie: Wir fühlen uns gut mit der Person, die wir lieben, und vergessen alles andere. Es ist das Hormon der Liebesleidenschaft.
  • Oxytocin, auch als Liebeshormon bekannt, wird beim Orgasmus in großen Mengen produziert. Es verbindet den orgasmischen Moment mit Gefühlen der Entspannung und des Optimismus.
  • Dopamin, auch als Belohnungshormon bekannt. Dieses Hormon spielt eine wichtige Rolle bei unserem Bedürfnis nach Treue und Zugehörigkeit. Es ermöglicht uns, Freude mit dem Erlebnis zu verbinden. Wenn wir einen intensiven und angenehmen Moment mit einer Person erleben, haben wir die Tendenz, diese Erfahrung mit derselben Person zu wiederholen.
  • Endorphin schüttet schließlich unser Körper bei längerer Anstrengung aus. Dieses natürliche Morphin im Körper sorgt für ein köstliches Gefühl der Ekstase. Es wird im Moment des Orgasmus auch im Gehirn destilliert, um Stress zu bekämpfen oder wenn wir starke Schmerzen haben.
  • Weiterhin schüttet unser Körper Luliberin aus, welches das Erregungsniveau erhöht, sowie LH und FSH bei Frauen und Testosteron bei Männern. Schließlich erzeugt die Hirnrinde noch mehr mentale Bilder, Fantasien und Serotonin.
  • Wenn Dopamin und Testosteron zusammen Party machen, schüttet der Hypothalamus ein weiteres wichtiges Sexualhormon aus, Melanocortin, das die Gefäßerweiterung der Geschlechtsorgane sowie die Befeuchtung und Erweiterung der Vagina fördert.

Was noch im Gehirn passiert

Während der orgasmischen Phase sind die Seitenlappen des Gehirns vorübergehend gehemmt, was die Selbstkontrolle und die Selbsteinschätzung stark abschwächt. Furcht und Angst neigen dazu, zu verschwinden, und lassen Raum für ein triebhafteres Verhalten.

Es scheint auch so zu sein, dass das Gehirn während des Orgasmus die Schmerzinformationen unterbricht und einen Teil davon verliert. Dies kann zu einer Art Neuorganisation des Gehirns führen, die widerum Vergesslichkeit erzeugt. Je mehr Blut zirkuliert, desto mehr weiße Blutkörperchen und Nährstoffe werden unserem Körper zur Verfügung gestellt, damit er sich von bestimmten negativen Auswirkungen heilen und reparieren kann. Beide Tatsachen könnten u. a. ein Grund für die Heilkraft des Orgasmus sein.

In dieser Phase kommt es zu einer elektrischen Spitze, die wir als Orgasmus bezeichnen und als solchen erleben. Das Gehirn drückt auf eine Art Reset-Funktion.

Die Medizin-Nobelpreisträger Barry Komisaruk und Pek Van Andel haben MRT-Scans von Frauen durchgeführt, die gerade einen Orgasmus erleben, und bestätigen diese Idee. Sie sprechen von einem Feuer im limbischen System (Sitz der Emotionen) und dem befreienden Aspekt dieser elektrischen Spitze im Gehirn.

Von Anfang bis Ende werden mehr als dreißig Bereiche des Gehirns aktiviert, einschließlich derjenigen, die mit Berührung, Gedächtnis, Belohnung und sogar Schmerz zu tun haben.

Am Anfang steht das Verlangen

Sexuelles Verlangen wird durch sexuelle Fantasien, die Vorstellungskraft, die Vorstellung, dass die Begegnung mit dem*der Partner*in genussvoll sein wird, die Enthaltsamkeit und vieles mehr ausgelöst … Kurz gesagt, durch eine ganze Reihe von Faktoren, die zu diesem Schwebezustand führen, der den Menschen in Erwartung versetzt, in die Fähigkeit, den Anderen und sich selbst zu erforschen und zu entdecken. So aktiviert sich das dopaminerge System und versetzt sich in Erwartung der orgasmischen Belohnung.

Loslassen und Heilung

Das Loslassen ist die offensichtlichste Dimension, so sehr, dass man nur dann einen Orgasmus haben kann, wenn man die Kontrolle über sich selbst, den eigenen Körper und seine unterschiedlichen Reaktionen verliert.

Die therapeutische Dimension des Loslassens ließ sich in Beobachtungen über meditative Zustände untersuchen. Der Orgasmus ist neurologisch betrachtet eine Art Meditation, die den inneren psychischen Raum öffnet und uns seinen versteckten Inhalt zeigt. In diesem intimen Raum zeigen wir uns selbst aber auch unserem Gegenüber Schattenanteile, die sonst nie zum Vorschein kommen würden. So erhalten sie Daseinsberechtigung und können als Teil unserer gesamten Persönlichkeit integriert werden.

In uns Menschen steckt eine Selbstheilungsfunktion, nämlich die Fähigkeit, verschiedene natürliche Funktionen im Gleichgewicht zu halten. Diese Funktion ist die Homöostase, und der Orgasmus kann als Teil davon betrachtet werden.

Neben der Öffnung des psychischen Raums und den Zugang zu versteckten Teilen unserer Persönlichkeit und deren Integration bewirkt der heilende Aspekt des Orgasmus u. a.:

  • die Verringerung von Stress,
  • das Verschwinden von Kopfschmerzen,
  • die Verbesserung der Schlafqualität,
  • das Wohlbefinden der Gelenke,
  • die Beeinflussung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und
  • eine fröhlichere Stimmung.

Für den Psychoanalytiker Donald Winnicott haben wir ein archaisches Bedürfnis, berührt zu werden, und dieses Bedürfnis findet Erfüllung in der Sexualität. Vielleicht gibt es eine innere, unbewusste Weisheit, die uns zum Sex motiviert, um die physiche und psychische Selbstheilung durch den Orgasmus zu verstärken.

Frauen geben sich hin, Männer öffnen sich

Um den Orgasmus zu beschreiben, benutzen Frauen häufig den Begriff sich hingeben und Männer den Begriff sich öffnen. Was ist damit gemeint?

Der Orgasmus durchkreuzt das grundlegende emotionale Prisma: Freude, ja, aber auch Traurigkeit, Überraschung, Angst, Ekel und Wut bilden die menschliche orgasmische Gefühlspalette.

Das Loslassen fällt manchen Menschen schwer, denn es geht darum, zu akzeptieren, dass wir unseren Emotionen völlig ausgeliefert sind. Zu viele Emotionen bedeuten allerdings unkontrolliertes Ausgesetztsein. Darum können einige nicht komplett loslassen, aus Angst, die Kontrolle über ihre Emotionen zu verlieren und sich verletzlich zu zeigen.

Orgasmus Heilung und Selbsterkenntnis

Wenn die Lust ihren Höhepunkt erreicht, öffnet sich ein Raum der Selbsterkenntnis. Diese Selbsterkenntnis führt zur Akzeptanz, dass es in uns eine Vielzahl von Anteilen gibt. Plötzlich tauchen in dem Höhepunkt der Lust Aspekte des Selbst auf, die wir sonst nicht zeigen oder ignorieren. In diesen Momenten erhalten wir die Chance, mit diesen versteckten Anteilen in Kontakt zu kommen und diese zu integrieren.

Diese Art Selbstoffenbarung in Gegenwart einer anderen Person zu erleben, setzt allerdings Vertrauen in sich selbst und vor allem in das Gegenüber voraus.

Während des Orgasmus bietet man dem anderen etwas von sich selbst an. Dieses Anbieten kann eine ziemlich offensichtliche therapeutische Dimension haben. Diese Hingabe erlaubt es, auf körperlicher Ebene alle Spannungen und Blockaden hinter sich zu lassen.

Auf der seelischen/psychischen Ebene ermöglicht diese Selbstoffenbarung, bei der jede*r den Vorhang seines*ihres eigenen intimen Theaters öffnet und der anderen Person auf die Bühne seiner*ihrer stärksten Triebe und intimsten sensiblen Stellen treten lässt. In diesem Raum wirkt die Heilkraft des Orgasmus.

Was ist los, wenn der Orgasmus nicht kommt?

Der fehlende Orgasmus – meist bei der Frau – hat oft, wie bereits gesagt, mit einer unbewussten Angst vor Kontrollverlust zu tun, eine intensive Angst, die manche als verrückt werden beschreiben. Die Angst, dass der Körper sich befreit und unkontrolliert seine Körpersäfte verliert. Die Angst, von starken Emotionen überflutet zu werden. Die Angst, sich in dieser gefühlten Hilflosigkeit verletzbar zu zeigen

Vor allem wenn man nicht mit den eigenen Emotionen verbunden ist, wenn man bestimmte emotionale Zustände nicht gut integriert hat, stellt der Orgasmus die Beziehung zu sich selbst auf eine sehr intensive Weise in Frage.

Die sechs primären Emotionen – Freude, Angst, Wut, Trauer, Ekel, Überraschung –, die in der Orgasmuserfahrung präsent sind, bilden die Grundlage unserer Beziehung zur Welt und zu uns selbst. Einen Orgasmus zu erleben, ist wie eine Rückkehr zu dieser Quelle, zu einem vorsprachlichen Moment, in dem das Kind die ersten Steine für sein Beziehungsgebäude legt. Die Wiederentdeckung dieser archaischen Zustände gibt uns die Möglichkeit, in den großen emotionalen Raum des Säuglings oder Kindes einzutauchen. Für einige von uns eine bedrohliche Vorstellung aufgrund erlebter negativer Erfahrungen, die noch nicht genug verarbeitet wurden.

Die zentrale Rolle des Begehrens und seiner Dimensionen

Begehren fühlen 

Unsere Beziehung zum Begehren geht in erster Linie über eine besondere Verbindung zu uns selbst. Es geht darum, zu verstehen, dass wir in uns eine Lebenskraft, eine intensive und freudige Kraft besitzen.

Es ist unsere Fähigkeit, zu begehren. Um diese Fähigkeit zu bejahen, brauchen wir einerseits ein gut ausbalanciertes Selbstwertgefühl und auf der anderen Seite ein Gegenüber, das wir begehren können.

Das Gefühl des Begehrens hat nichts mit Selbstbezogenheit zu tun. Es geht vielmehr um die Fähigkeit, das, was man ist, zu schätzen und sich das Recht zu geben, im anderen zu existieren.

Begehrt werden 

Die zweite Achse des Begehrens ist unsere Fähigkeit, zu akzeptieren, dass wir begehrt werden. Es ist die Akzeptanz und das Vergnügen, das man empfinden kann, wenn man die Aufmerksamkeit, die Worte, die Gesten der anderen Person erhält. Diese Akzeptanz mag selbstverständlich erscheinen. Dennoch tun sich viele von uns schwer damit, als begehrenswert angesehen zu werden, bei der anderen Person Begehren zu wecken! Als Konsequenz davon verbirgt man die eigene sexuelle Natur und sexuelle Attraktivität.

Begehrenswert sein 

Dieser Aspekt spielt ebenfalls eine zentrale Rolle. Gerade viele Frauen tun sich damit besonders schwer und vermeiden alles, was in diese Richtung interpretiert werden könnte: sich begehrenswert zu zeigen.

  • Was tun wir oder was tun wir nicht, um begehrenswert zu sein?
  • Wie zeigen wir uns anderen, um Freude, Lust und Genuss gemeinsam zu erleben?

In dieser Dimension des Begehrens geht es um unsere Haltung, uns begehrenswert zu zeigen, uns nicht hinter falscher Bescheidenheit oder Desinteresse und moralischen Vorstellungen zu verstecken. Sich als sexuelles Wesen zu verstecken, führt oft unweigerlich zur eingeschränkten Orgasmusfähigkeit. Sich nicht als begehrenswerte Person zu zeigen, verhindert die Heilkraft des Orgasmus.

Fazit

Sich dessen bewusst zu werden, was für ein Potenzial in der Orgasmusfähigkeit jenseits des reinen Genusses enthalten ist, und mit dem Wissen, was die Orgasmus-hindernden Faktoren sein könnten, kann einen heilenden Entwicklungsprozess in Gang setzten. Dieser kann am Ende zur Überwindung der Blockaden führen und eine tiefe Selbsterkenntnis ermöglichen.

Quelle

Héril, A. (2021).  L’Orgasmo Terapeutico: Quando il piacere scaccia il dolore (Italian Edition) [Kindle iOS version]. Retrieved from Amazon.com