„Frauen brauchen einen Grund, um Sex zu haben. Männer brauchen nur einen Ort.“ Mit dieser provokativen Aussage fängt das letzte Buch über Sexualität an, das ich gerade gelesen habe. Michael Bader, US-Psychoanalytiker und Experte für männliche Sexualität, erzählt uns in seinem Buch „Male Sexuality“, was Männer beim Sex in Bezug auf Frauen wirklich oft denken und was sie dabei fühlen: »Tief in ihrem Innersten sehen die meisten Männer Frauen nicht als Objekte oder Eroberungen; sie machen sich tatsächlich Sorgen um sie – sogar zu viele Sorgen. Sie sind nicht zu egoistisch, sondern zu schuldbewusst. Sie sind nicht räuberisch, sondern einsam.«

Diese Aussage kann manchen Leser*innen vor den Kopf stoßen. So ging es mir auch, als ich die ersten Seiten dieses Buches las. Die Erklärungen und Deutungen von sexuellen Fantasien und Praktiken, die später kamen, haben mir dennoch eine neue Perspektive auf manches sexuelle Verhalten gezeigt, die mich überzeugt hat. Ein Verhalten, das Männer oft gegenüber Frauen zeigen und das wir Frauen nicht gutheißen.

In diesem Artikel fasse ich die wichtigsten Aspekte zusammen, die in Baders Buch zu diesem Thema beschrieben werden.

Sexuelles Verlangen: nicht nur ein einfacher Reflex

Für alle Menschen ist sexuelles Verlangen nicht einfach die Konsequenz eines angeborenen und unwillkürlichen Erregungsreflexes. Sexuelles Verlangen entspringt viel mehr der Bedeutung, die wir bestimmten Ereignissen – zum Beispiel einer flüchtigen Berührung, einem intensiven Blick – beimessen. Diese Bedeutung wird von unserem Verstand konstruiert, nicht von unseren erogenen Zonen.

Zwischen unserem angeborenen sexuellen Potenzial und den besonderen individuellen Ausprägungen der Lust liegt ein psychisches System, das entweder sexuelle Erregung aufblühen lässt oder sie vollständig unterdrückt. Dieses System ist unbewusst und kann ein Minenfeld für sexuelles Verlangen sein.

Zu viel Verantwortung kühlt die Lust

Es genügt zu sagen, dass Menschen so veranlagt sind, dass wir nicht maximal erregt werden können, wenn wir uns übermäßig für andere verantwortlich fühlen, uns um ihr Wohlergehen sorgen, empfindlich auf Scham und Ablehnung reagieren oder wegen uns selbst deprimiert sind. Glücklicherweise liefert uns derselbe Verstand, der ein Problem für sexuelle Erregung schafft, auch eine mögliche Lösung. Wir sehen solche Lösungen überall um uns herum: Sie werden sexuelle Fantasien und sexuelle Vorlieben genannt.

Sexuelle Fantasien und Vorlieben sind die Mittel, mit denen unser Verstand dem abschreckenden Effekt von Schuldgefühlen, Sorgen, Scham, Ablehnung und Hilflosigkeit entgegenwirkt und es sicher genug macht, Lust zu empfinden.

Männliche Projektionen und sexuelle Fantasien

Viele Männer wachsen zum Beispiel mit der unbewussten Annahme auf, dass die Empfindsamkeit, die sie bei ihrer Mutter beobachteten, bei allen Frauen unter der Oberfläche schlummert. Daraus kann die geheime Überzeugung entstehen, dass Frauen dazu neigen, von Männern und vom Leben enttäuscht zu sein.

Das Ergebnis ist – so der Autor – eine empfindsame und nicht besonders wohlgesonnene Haltung männlichen sexuellen Annäherungsversuchen gegenüber. Diese Überzeugung kann im Erwachsenenalter zu einem geschwächten sexuellen Selbstvertrauen führen.

Das Gegenmittel dafür ist oft die Fantasie einer fröhlichen, selbstbewussten und sexy Frau, die nichts anderes will, als ihrem Mann zu gefallen. Es besteht keine Gefahr, von ihr beleidigt oder zurückgewiesen zu werden. Dieses Fantasieszenario negiert vorübergehend die Schuldgefühle, die Männer oft haben, wenn sie sexuell selbstbewusst und fordernd auftreten.

Unbewusste Schuldgefühle

Im Laufe ihres Heranwachsens entwickeln Männer eine besondere Form von Schuldgefühlen gegenüber Frauen, die ihre Fähigkeit beeinträchtigt, sich sexuell gehen zu lassen. Sie lösen dieses Problem, indem sie Frauen objektivieren und Sex von Intimität trennen. Männer, die mit Frauen aufwachsen, die deprimiert oder sehr überfordert in ihrer Rolle als Mutter waren, entwickeln oft eine tiefe – wenn auch unausgesprochene – Überzeugung, dass sie nicht liebenswert sind. Sie glauben, dass ihr Bedürfnis nach Liebe und Fürsorge andere Menschen belastet.

Die Lösung für diesen Konflikt bieten Sex-Workerinnen. Bei einer Sex-Workerin kann mann der Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit sein. Er muss nichts Besonderes tun, aber er kann tun, was er will, und sie hat nichts dagegen. Für Sex zu bezahlen ist oft faszinierend, weil es ein Problem löst und irrationalen Schuldgefühle und Sorgen um andere entgegenwirkt.

Tief in seinem Innersten sehnt sich ein Mann, der unter diesen Bedingungen aufgewachsen ist, verzweifelt nach Liebe. Er glaubt jedoch unbewusst, dass er diese nur erhalten könne, wenn er sich selbst opfert, anstatt seine eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu äußern.

Betreuer oder Liebhaber?

Ein überwältigendes Verantwortungsgefühl hat eine lähmende Wirkung auf die Libido. In langfristigen Beziehungen wird praktisch die Beziehung zur eigenen Mutter wiederhergestellt. Der Mann beginnt, sich gegenüber seiner Partnerin eher als Betreuer denn als Liebhaber zu fühlen.

Wenn wir unter die einfache Oberfläche der sexuellen Erregung blicken, finden wir einen komplizierten psychologischen Prozess, dessen sich die meisten von uns überhaupt nicht bewusst sind. Menschen werden nur dann sexuell erregt, wenn ihre Vorstellungskraft einen Weg findet, ihre inneren Blockaden vorübergehend zu negieren oder zu überwinden.

Der Wert dieses Erklärungsansatzes des Autors in Bezug auf Sex liegt nicht nur in seiner Fähigkeit, die Bedeutung der besonderen Fantasien und Verhaltensweisen einer Person zu erklären, sondern auch darin, ihre wichtigsten emotionalen Konflikte aufzudecken. Wenn sexuelle Fantasien und Wünsche als Lösungen für psychologische Probleme auftreten und wenn diese Probleme mit grundlegenden Ängsten und Konflikten verbunden sind, dann wird Sexualität zu einem mächtigen Fenster, durch das wir die Funktionsweise des Geistes betrachten können.

Da sexuelle Erregung nur dann entstehen kann, wenn ein psychisches Problem durch eine Fantasie vorübergehend gelöst wurde, ist die Untersuchung von Fantasien in Wirklichkeit eine Untersuchung der Wendungen und Verwicklungen der tiefsten Ebenen der Psyche.

Pathogene Überzeugungen

Pathogene Überzeugungen beschreiben Gefühle und Einstellungen, die nicht nur das sexuelle Vergnügen, sondern auch das allgemeine Glück beeinträchtigen. Alle Kinder entwickeln normalerweise pathogene Überzeugungen, die oft ein Leben lang anhalten und eine Reaktion auf ihr familiäres Umfeld sind. Eine pathogene Überzeugung entsteht in der Regel in der Kindheit und basiert auf der Annahme, dass die Beziehung zu den Eltern irgendwie gefährdet ist, wenn Menschen ein normales Ziel oder Vergnügen verfolgen – zum Beispiel sexuelle Leidenschaft, emotionale Unabhängigkeit oder den Stolz, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.

Pathogene Überzeugungen sind keine bewussten abstrakten Theorien über die Welt, sondern emotional aufgeladene und meist unbewusste Denkmuster, die Kinder ganz natürlich entwickeln, um die Welt um sie herum zu verstehen. Wenn ihre Mutter unglücklich erscheint, übernehmen Kinder automatisch die Verantwortung und tun alles, um ihr zu helfen, selbst wenn sie sich dabei selbst verletzen.

Pathogene Überzeugungen fühlen sich weniger wie eine bewusste Entscheidung an, sondern eher wie ein fester Bestandteil der Welt. Solange das Kind die Verantwortung für das Trauma übernimmt und sowohl das tatsächliche Trauma als auch seine Reaktion darauf unbewusst hält, muss es sich nicht mit der Realität auseinandersetzen.

Aufgrund der lebenswichtigen Notwendigkeit, eine sichere Bindung zu den Eltern aufrechtzuerhalten, ist es für Kinder sicherer, anzunehmen, dass sie Einfluss auf ihre Bezugspersonen nehmen können, als anzunehmen, dass sie dies nicht können.

Sexuelle Fantasien entschlüsseln

Alle verschiedenen Formen männlicher Sexualität spiegeln Strategien wider, um unbewusste pathogene Überzeugungen, die das erotische Verlangen dämpfen, zu umgehen oder zu überwinden – Überzeugungen, die mit Gefühlen der Sorge, Schuld, Ablehnung, Scham, Einsamkeit und Hilflosigkeit verbunden sind.

Wenn wir sexuelles Verhalten als imaginäre Lösung für zugrunde liegende Probleme verstehen können, dann bricht laut Michael Bader die Unterscheidung zwischen sexuell konventionellem und bizarrem Verhalten zusammen.

Die Bedeutung von Sex ist oft von Gegensätzen geprägt.

Während die einen es mögen, dominiert zu werden, um sich nicht schuldig und verantwortlich zu fühlen, begegnen wir anderen Männern, die gerne dominieren, um Gefühle der Hilflosigkeit zu überwinden. Sobald wir akzeptieren – so Bader –, dass sexuelle Vorlieben eigentlich psychologische Strategien zur Problemlösung und keine biologischen oder moralischen Abweichungen sind, können wir aufhören, uns dafür zu schämen. Unser Unterbewusstsein besitzt nämlich eine enorme Fähigkeit, psychologische Gefahren wahrzunehmen und schnell und effizient kreative Lösungen zu entwickeln.

Dies ist ein universelles Problem, das jedoch bei Jungen und Mädchen unterschiedliche Formen annimmt. Während beide Geschlechter sich von ihren Müttern lösen müssen, haben Jungen zusätzlich die Aufgabe, sich mit einem völlig anderen Geschlecht zu identifizieren. Jungen müssen nicht nur zu Individuen werden, die von ihren Müttern getrennt sind, sondern auch zu männlichen Individuen.

Der Weg des Jungen in die Welt der Männlichkeit

Verstärkt durch bestimmte Geschlechterstereotype in unserer Kultur erfüllen Jungen diese doppelte Aufgabe, das Nest zu verlassen und männlich zu werden, oft, indem sie Männlichkeit zur Negation oder Ablehnung von Weiblichkeit machen.

Dieses Bedürfnis, das Geschlecht der Mutter aktiver zu leugnen, verleiht dem Entwicklungsprozess von Jungen in dreierlei Hinsicht eine besondere Wendung:

  • Erstens sind Jungen, wenn sie sich von ihren Müttern distanzieren, anfällig für Schuldgefühle und Sorgen, dass sie ihre Beziehungen zu den Bezugspersonen, die sie am meisten lieben und brauchen, verletzen und damit gefährden könnten.
  • Die zweite Folge der Geschlechterrigidität in der männlichen Entwicklung ist, dass Jungen durch die Nähe zur Mutter und später zu anderen Menschen mehr zu verlieren haben als Mädchen. Emotionale Intimität beinhaltet immer ein gewisses Maß an Identifikation – das Gefühl, dem Objekt der Zuneigung ähnlich zu sein.
  • Die dritte Folge der besonderen Verbindung zwischen Männlichkeit und Trennung bei Jungen ist die Neigung, sich emotional abgekoppelt zu fühlen.

Wenn Väter keine Vorbilder sind

Die Widersprüche, auf denen Männlichkeit basiert, finden unweigerlich ihren Weg ins Schlafzimmer. Im Idealfall helfen Väter ihren Söhnen bei diesen Dilemmata, indem sie ihnen positive Vorbilder bieten und ihre aufkeimende Männlichkeit väterlich fördern. Jungen wünschen sich eine enge Beziehung zu Vätern, die stolz auf ihre eigene Männlichkeit sind und motiviert sind, die Männlichkeit ihrer Söhne zu unterstützen.

Aber Väter werden in unserer Kultur oft als emotional oder physisch abwesend wahrgenommen und häufig als mit ihren Frauen in Konflikt stehend angesehen. Allzu oft werden Jungen allein gelassen, um sich in den komplizierten Strömungen ihrer Beziehungen zu ihren Müttern und damit auch zu anderen Frauen zurechtzufinden. Diese besonderen Spannungen in der männlichen Entwicklung machen Jungen anfällig für eine besondere Art von Schuldgefühlen, weil sie männlich sind.

Solche grundlegenden Wünsche sind nicht nur liebevoll, sondern spiegeln auch das Bedürfnis der Jungen wider, die Gewissheit zu haben, dass ihr eigenes Wachstum und ihre Freude an ihrer männlichen Andersartigkeit ihren geliebten Bezugspersonen nicht wehtun. Schließlich gibt es eine Vielzahl von Männern, die offenbar mit ihren Schuldgefühlen, Frauen verletzt zu haben, nur klarkommen, indem sie zu Karikaturen der Männlichkeit werden und sich so sehr abkapseln, dass sie sich der Gefühle von Frauen nicht einmal mehr bewusst sind.

Auch Mädchen haben es nicht leicht

Auch Mädchen müssen sich von ihren Müttern trennen und leiden unter einer erheblichen Schuld und Angst in Bezug auf diesen Prozess. Der Vorteil dieser Verbindung besteht darin, dass Mädchen ihre Empathie und Gefühle nicht so stark unterdrücken müssen wie Jungen; der Nachteil ist jedoch, dass Mädchen oft übermäßige Schuldgefühle haben, weil sie in ihrem Berufs- und Liebesleben erfolgreicher sind als ihre Mütter.

Für Mädchen besteht das Verbrechen darin, sexuell unabhängig und selbstbewusst zu sein; für Jungen besteht das Verbrechen darin, männlich zu sein. Eine verbreitete Fantasie unter Frauen ist, dass Männer, wenn sie wirklich alle sexuellen Hemmungen ablegen und ihre sexuelle Leidenschaft voll zum Ausdruck bringen würden, sich wie ihre Väter bedroht fühlen und dann defensiv reagieren würden, indem sie sie verlassen oder demütigen. Das Ergebnis ist, dass Frauen erwarten, dafür bestraft zu werden, dass sie Männer einschüchtern oder sie die Kontrolle verlieren lassen. Als Reaktion auf diese Gefahr halten Frauen oft ihre sexuelle Leidenschaft vollständig unter Kontrolle.

Wenn Du tiefer in dieses Thema eintauchen möchtest, empfehle ich Dir die Lektüre von Michael Baders Buch. Male Sexuality: Why Women Don’t Understand It – And Men Don’t Either (English Edition).